von Leonhard
„Bougez plus!“ – diesen Slogan hört man täglich im Radio und liest ihn in diversen Werbeprospekten der Lebensmittelketten. Er ist Teil des „PNNS“ – „Programme national nutrition santé“ (die Franzosen lieben Abkürzungen!).
Bougez plus! – seitdem wir Gaston zur Familie zählen, nehme ich an diesem Programm teil. Jeden Vormittag gehe ich ein bis zwei Stunden mit Gaston spazieren, manchmal auch nachmittags, manchmal auch vor- und nachmittags. Gefühlt den ganzen Tag. Ich habe das Gefühl, ich komme zu nichts anderem mehr. Und wenn ich dann doch mal zu etwas anderem komme, zum Beipiel im Bad auf dem Bauch liegend endlich mit Silikon die Sockelleisten zu verfugen, kann ich sicher sein, daß so ein ungestümes Tier ankommt und mir seine Begeisterung ob meines Tuns duch eine Zungen-Gesichts-Wäsche kundtut. Oder daß der Baustellenkater dazukommt und eine wilde Hatz durch das Badezimmer beginnt – quer über meinen Rücken drüber, versteht sich.
Bougez plus! Nicht, daß mir die Bewegung nicht gut täte! Im Gegenteil, ich spüre die Auswirkungen an Körper und Seele. Weit mehr als 400 km habe ich so in den letzten Wochen zu Fuß zurückgelegt. Bei Sonnenschein, aber meist bei Sturm und Regen oder Hagel.
So kenne ich (und Gaston natürlich auch) mittlerweile fast alle Feld- und Waldwege um Cissac herum, die, auf denen man gut laufen kann,
und die, in denen man knöcheltief im Schlamm watet.
Ich kenne fast sämtliche Hunde in Cissac (gefühlt mindestens so viele wie menschliche Einwohner in Cissac), kleine Kläffer, riesige Doggen, die fast über den Zaun steigen, streunende Rottweiler, die uns auf dem ganzen Weg nach Hause begleiten, Schloßhunde in Form von Berner Sennenhunden, die Gaston unter sich begraben usw.
Und ich hab‘ eine ganze Menge Leute kennengelernt: Nachbarn in Ihren Gärten, Winzer in Ihren Weinfeldern, Leute (mit oder ohne Hund) auf der Straße. Man kennt sich inzwischen, grüßt sich, redet über das Wetter, den Regen und natürlich über Gaston.
Während wir täglich zwischen den Weinfeldern spazieren gehen, herrscht in den Weinfeldern emsige Betriebsamkeit. Es ist die Zeit des Winterschnitts der Rebstöcke, die Vorjahrestriebe werden abgeschnitten, zwei möglichst waagerechte Triebe bleiben stehen, werden gestutzt und anschließend horizontal an den Spanndrähten fixiert. Soweit vereinfacht meine Interpretation dessen, was ich täglich beobachte. (In Wirklichkeit ist das alles viel, viel komplizierter, wie ich feststellen mußte, als ich zu diesem Thema im Internet mal was nachlesen wollte)
Diese Arbeit wird ausschließlich per Hand, bei Wind und Wetter, in gebückter Körperhaltung durchgeführt!
Die abgeschnittenen Triebe – „sarments“ werden sie hier genannt – werden zwischen den Rebreihen abgelegt, später dann aufgehäufelt, abtransportiert und – nach Zurechtschneiden und Bündeln – als Feuerholz, vor allem wohl zum Grillen, verwendet oder verkauft. Jedenfalls die „sarments“, die Gaston übrig läßt: sie lassen sich nämlich vortrefflich herumschleppen und zerbeißen.
(Auf anderen Weinfeldern habe ich aber auch beobachtet, daß die abgelegten „sarments“ maschinell aufgesammelt und gehäckselt wurden.)
Außerdem werden nebenbei alte, tote Rebstöcke ausgesondert, die ebenfalls als Brennholz dienen
– oder aus denen man dekorative Schmuckständer basteln kann!
Begehrtes Knabberzeug für Gaston sind auch diese Dinger: leere Patronenhülsen, die hier überall am Wald-, Weges- und Weinfeldrand zuhauf herumliegen.
Die Jagd spielt hier im Médoc eine große Rolle. Nicht nur, weil es hier viel Wild gibt – neulich versuchte Gaston bei einem unserer Spaziergänge ein Reh einzufangen, das unseren Weg kreuzte – sondern eben auch viele Jäger.
Die französische Revolution machte aus einem ausschließlichen Recht des Adels, der Kirche und der „Seigneurs“ zu jagen, ein uneingeschränktes Recht des Volkes. Dieses Recht wurde durch diverse Gesetze im Laufe der Zeit mehrfach modifiziert; mittlerweile gibt es seit einigen Jahren aber auch das Recht von Grundbesitzern, die Jagd auf ihrem Grundstück zu verbieten.
Jedenfalls ist die Jagd hier sehr populär. Während der Jagdsaison sieht man hier überall, vor allem an Wochenenden, Leute mit ihren Gewehren, Jagdhörnern und Jagdhunden herumlaufen. Ich habe mich an das Geballere in unmittelbarer Nähe und das Geheule der Meutehunde bisher noch nicht gewöhnt.
Verwirrender Schilderwald
An einem Sonntagmorgen spazierten Gaston und ich hier durch die Weinfelder, als ich plötzlich ca. 50 Meter vor uns eine Gestalt mitten im Weinfeld bemerkte, die gestikulierte und irgendetwas rief. Ich konnte gerade noch Gaston anleinen (der nämlich auf alle menschlichen Wesen zurennt und dabei allen antrainierten „Grundgehorsam“ vergißt), bevor ein Schuß krachte und ein Jagdhund durch die Rebreihen hetzte. Wir haben schleunigst das Weite gesucht…
In Frankreich ist auch die Jagd mit Pfeil und Boden erlaubt. Ein solches Jagdgebiet vermutete ich, als ich auf einem unserer Spaziergänge dieses Schild sah:
Als wir ein Stückchen weiter gingen, hatten wir das Wild auch schon aufgespürt :m-shock::
Seit dem Abend des 28. Februar ist die Jagdsaison im Departement Gironde beendet.
Müll einfach in die Landschaft zu werfen ist ganz allgemein eine Sauerei. Diese Sauerei ist in den letzten Wochen für mich aber auch ganz konkret geworden.
So wie man Landschaft ganz anders erlebt, mit ganz anderen Augen sieht, wenn man die Perspektive wechselt, nicht mit dem Auto auf Landstraßen die Landschaft durchfährt, sondern zum Beispiel per pedes auf Pfaden, Wegen oder einfach querfeldein durchquert, so nimmt man auch den Müll ganz anders wahr.
Was hier an den Rändern von Straßen, Wegen und Weinfeldern für ein Müll herumliegt, ist unbeschreiblich: Bierdosen, Glasflaschen, Babywindeln, Tablettenblister, Chipstüten, Plastikabfälle in allen Variationen, usw.
Besonders ärgerlich ist das, weil mein Begleiter ein lebender Müllschlucker ist, der Abfälle auf Hunderte von Metern wittert… Zack, in einen Graben oder einen Teich gesprungen und zack, mit einer der – pfandfreien – Plastikflaschen wieder herausgeprungen. Es gibt keinen Müll, der von Gaston noch nicht versucht wurde zu zerreißen oder zu
zermalmen. Mittlerweile macht er das aus reiner Provokation, er schnappt sich irgendetwas, mit Vorliebe etwas besonders ekliges, läuft ein paar Meter vor, damit man nicht an ihn herankommt und fängt an, seine Beute zu zerfetzen oder zu zerkauen – ohne den Blick von mir abzuwenden, um zu sehen, ob ich ihn auch gebührend beachte. Lasse ich ihn dann einfach links liegen, ohne ihn zu beachten, läuft er noch zwei, drei Mal vor, legt sich mir direkt in den Weg, verliert dann aber bei Mißachtung die Lust und macht sich auf den Weg zur nächsten „Müllprovokation“.
Bougez plus – ich mach‘ mich dann mal wieder auf den Weg zu neuen interessanten Entdeckungen!
Echtes „infotainment“, lieber Leonhard,
und danke echt für so viel Neues aus Eurer nun nicht mehr so ganz (für Euch)neuen Umgebung –
mit der Hoffnung auf mehr davon!
Die Deutschen als „Kulturnation“
hätten i der Nachfolge Goethe’s und anderer
aus einer vergleichbaren Aktion
wohl wieder was mit Knüppel-Reim und in Richtung
„Erziehungs-Ministerielles“ gemacht,
wie z.B.: MEHR BEWEGEN – KOLLEGEN!!!
wo uns der ausgestreckte pädagogische Zeige-Finger aber sowas von direkt in’s Auge springt/gesprungen wäre,oder?
Ich bin mir nicht ganz sicher , ob Gaston eigentlich ein Fall für Martin Rütter ist oder doch eher ein direkter Nachfahre von dem berühmten „Wetten, dass …? – Bordercollie Rico“
Liebe Grüße,
Dorit
@ jota:
Dem äußeren Preußentum sind wir ja glücklicherweise entkommen (und wie ist das mit dem inneren Preußentum, kann man ihm entfliehen?), aber den erhobenen Zeigefinger gibt’s hier natürlich auch.
Bei jeder Lebensmittelwerbung folgt im Schnellsprech (ähnlich wie in Deutschland das „zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“) „Pour votre santé, éviter de manger trop gras, trop sucré, trop salé!“, jede Süßigkeitenwerbung wird begleitet durch „Pour votre santé, éviter de grignoter entre les repas!“ und selbst bei der Anpreisung einer Rum-Trauben-Nuß-Schokolade wird gewarnt „L’abus d’alcool est dangereux pour la santé, à consommer avec modération“.
Insgesamt scheint mir hier öffentliche Gesundheitsaufklärung eine größere Rolle zu spielen als in Deutschland. Das kann aber auch an meiner Wahrnehmung liegen; ich höre hier zum Beispiel mehr Radio als früher in Deutschland.
@ Dorit:
Nix da mit Martin Rütter!
Gaston kann bereits jetzt 256 verschiedene Müllsorten unterscheiden und auf (und ohne) Zuruf apportieren! Bei Vogelfedern lassen wir zur Zeit noch gutachterlich klären, ob die als Müll gewertet werden oder als Nahrungsergänzungsmittel…
@ Dorit:
…außerdem üben wir schon Wurstebrühe aus einem Napf schlabbern – bisher hat Gaston mir gegenüber noch einen klaren zeitlichen Vorsprung…
… , und ich glaube auch nicht, daß Du da ohne zulässige Hilfsmittel überhaupt eine Chance hast, Gaston´s Schlabber-Frequenz zu toppen!!!
ich liebe diese leeren Patronenhuelsen, ich sammel sie im moment, ich moechte sie an meine weihnachtslichter machen und dann auf den Balkon haengen fuer schoene Sommerabende :D